Ich atme tief durch. In den letzten Wochen und Monaten hat Ruby mir bewiesen, dass sie eine gute Freundin ist. Vielleicht sogar die beste, die ich jemals hatte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie mich hintergehen würde. Und wenn sie ihrer Schwester vertraut, kann ich das auch.
?Wenn du glaubst, dass Ember mein Kleiderproblem l?sen kann, dann würde ich mich freuen, wenn wir sie fragen.?
Ruby strahlt. Dann steht sie auf. ?Wann wollten Percy und James dich abholen kommen? Haben wir noch Zeit??
?Das Training ist erst in einer halben Stunde vorbei?, sage ich nach einem kurzen Blick auf die Uhr. ?Bis er hier ist, ist es bestimmt Viertel nach sieben.?
?Perfekt.? Ruby ?ffnet die Tür und winkt mich zu sich. Ich folge ihr in den Flur. Embers Zimmer ist direkt neben Rubys, und ihre Tür steht einen Spaltbreit offen. Ruby klopft zweimal.
?Ember, hast du kurz Zeit? Wir haben einen kleinen Kleidernotfall.?
?Klar, kommt rein?, ruft sie uns zu.
Gemeinsam betreten wir Embers Zimmer. Es ist genauso gro? wie das von Ruby und ziemlich zugestellt. Ein Bett, ein Schreibtisch, ein weiterer, schmalerer Tisch, auf dem eine N?hmaschine steht, direkt daneben eine Schneiderpuppe, an der ein Kleid h?ngt. Meine Augen werden gro?.
?Ist das dein Kleid??, frage ich Ruby fassungslos.
Ich will es eigentlich sofort aus der N?he anschauen, erinnere mich aber rechtzeitig an meine Manieren. ?Hi, Ember?, sage ich und hebe die Hand.
Rubys Schwester sitzt auf dem Boden vor ihrem Bett, vor sich ein paar Stoffrollen und Swatches von Stoffproben. Sie hat einen gro?en, unordentlichen Dutt auf dem Kopf, aus dem sich einige dunkle Str?hnen gel?st haben. Zwischen ihren Lippen klemmt ein Stift.
?Hi?, nuschelt sie und legt die Swatches beiseite, um den Stift aus dem Mund zu nehmen. ?Was gibt’s für einen Notfall??
?Lydia braucht ein Kleid für den Frühjahrsball. Am liebsten h?tte sie eins von Elie Saab, aber das wird dieses Mal leider nichts. Hast du noch eine Idee, wo man was finden k?nnte, was zum Motto passt? Die Internetshops, die du mir gezeigt hast, haben wir schon durch.?
?Elie Saab w?re echt perfekt. Die Kleider sind so sch?n.? Ember seufzt. ?Ich habe unz?hlige davon auf meiner Kleider-Pinnwand auf Pinterest.?
?Oder??, frage ich und trete n?her an die Schneiderpuppe. über die Schulter werfe ich Ember einen fragenden Blick zu. ?Darf ich??
Sie nickt. ?Klar.?
Ich betrachte das Kleid eingehend. Es ist sanft roséfarben, hat einen Tüllrock und ein mit Blumen besticktes Oberteil. Beim n?heren Hinsehen f?llt mir auf, dass es zwei Teile sind, die Ember wohl mit einem breiten Seidenband aneinandern?hen m?chte und die jetzt noch durch kleine Stecknadeln zusammengehalten werden.
?Hast du das selbst gen?ht??
Ember nickt.
?Es ist wundersch?n?, sage ich aufrichtig.
Embers Wangen bekommen ein bisschen Farbe. ?Wir hatten echt Glück, den Tüll habe ich eigentlich nur zum Spa? bestellt. Die Qualit?t ist nicht besonders gut, aber das sieht ein Laie bestimmt nicht, wenn erst mal alles fertig ist.?
Pl?tzlich h?re ich Mums Stimme im Ohr.
Talent. Pures Talent.
In letzter Zeit passiert es mir st?ndig, dass ich an sie denken muss. In den seltsamsten Situationen und an den merkwürdigsten Orten sehe ich ihr Gesicht oder h?re ihre Stimme, und obwohl es nach wie vor unfassbar wehtut, an sie zu denken, empfinde ich diese Momente gleichzeitig als sch?n und beruhigend. Als ob ein Teil von Mum noch immer bei mir w?re.
?Du bist wirklich talentiert, Ember. Ich wünschte, ich k?nnte so gut n?hen.?
?Lernt man das nicht, wenn man in einer Familie wie deiner gro? wird??, fragt sie vorsichtig.
Ich zucke mit den Schultern.
Ich erinnere mich noch daran, wie ich meine Eltern mit dreizehn angebettelt habe, eine Schneiderin zu engagieren, um mich zu unterrichten. Ich wollte die Entwürfe, die ich gezeichnet hatte, umsetzen, hatte aber keine Ahnung von den Grundlagen. Dad wollte meine Skizzen und Designs erst sehen, um zu wissen, ob es sich lohnt, mir den Unterricht zu finanzieren. Doch als er festgestellt hat, dass ich Kleidung für junge Frauen entworfen hatte, hat er mich sofort mit einem abf?lligen Schnauben abgewiesen.
Danach habe ich mir das N?hen mehr oder weniger selbst beigebracht. Aber auch die fertigen R?cke und Blusen haben meine Eltern nicht davon überzeugen k?nnen, dass eine Frauenkollektion bei Beaufort ein guter und wichtiger Schritt w?re. Und irgendwann war es zu deprimierend für mich, stundenlang an der N?hmaschine zu sitzen und Schwei? und Herzblut in ein Kleidungsstück zu stecken, das niemals jemand tragen würde.
?Ich konnte mal n?hen. Jetzt … nicht mehr?, antworte ich nach einer Weile.
?Wie kommt’s??
Dass Ember einfach so nachfragt, fühlt sich irgendwie sch?n an. Die meisten Menschen sind in Gespr?chen mit mir eher befangen, als wüssten sie nicht, was sie mich fragen k?nnten und was nicht. Das führt dazu, dass sie sich mit mir nur über belanglose Dinge unterhalten. Ember ist eine der wenigen Ausnahmen: Sie gibt mir das Gefühl, dass sie sich wirklich für das interessiert, was ich zu sagen habe.