Bei dem Gedanken an Mums Beerdigung wird meine Kehle eng. Ich bekomme keine Luft mehr, meine Augen fangen an zu brennen. Hastig drehe ich mich weg, aber Cyril merkt es.
?Lydia …?, wispert er und greift sanft nach meiner Hand.
Ich entziehe sie ihm und verlasse ohne ein weiteres Wort den Raum. Die Jungs sollen nicht sehen, wie ich weine. Irgendwann lassen auch sie sich nicht mehr hinhalten und werden trotz Cyrils Warnung anfangen, Fragen zu stellen. Keiner von ihnen ist auf den Kopf gefallen. James hat sich noch nie so benommen. Auch wenn er hin und wieder über die Str?nge schl?gt, wei? er im Normalfall immer, wo seine Grenzen sind. Dass das momentan nicht der Fall ist, haben die anderen l?ngst mitbekommen. Die Tatsache, dass Keshav begonnen hat, eine Schnapsflasche nach der anderen aus der Bar verschwinden zu lassen, und Alistair aus Versehen die paar Gramm Kokain, die James noch übrig hatte, im Klo runtergespült hat, spricht für sich.
Ich kann es nicht erwarten, bis die Geheimniskr?merei endlich ein Ende hat. In wenigen Minuten, um genau fünfzehn Uhr, geht die Meldung von Mums Tod an die ?ffentlichkeit, und dann würden nicht nur die Jungs davon wissen – sondern die ganze Welt. Vor meinem inneren Auge kann ich jetzt schon die Schlagzeilen und die Reporter vor unserer Haustür und der Schule sehen. übelkeit überkommt mich, und ich taumle den Flur entlang, bis ich bei der Bibliothek angekommen bin.
Der fahle Schein der Lampen beleuchtet die unz?hligen Regale, in denen altehrwürdige, in Leder gebundene Bücher stehen. Ich stütze mich an den Regalen ab, w?hrend ich mit zittrigen Knien den Raum durchquere. Ganz hinten neben dem Fenster steht ein mit dunkelrotem Samt überzogener Sessel. Schon als Kind war das mein Lieblingsort in unserem Haus. Hierhin habe ich mich verkrochen, wenn ich meine Ruhe haben wollte – vor den Jungs, vor meinem Dad, vor den Erwartungen, die der Name Beaufort mit sich bringt.
Der Anblick dieser kleinen Leseecke sorgt dafür, dass meine Tr?nen noch heftiger flie?en. Ich lasse mich auf den Sessel fallen, ziehe die Beine an und umschlinge sie mit den Armen. Dann vergrabe ich das Gesicht an den Knien und weine leise.
Alles um mich herum kommt mir so unwirklich vor. Als w?re es ein b?ser Traum, aus dem ich aufwachen kann, wenn ich mich nur genug anstrenge. Ich wünsche mich zurück in den Sommer vor eineinhalb Jahren, in eine Welt, in der meine Mum noch am Leben ist und Graham mich in den Arm nehmen kann, wenn es mir schlecht geht.
W?hrend ich mit einer Hand über meine Augen wische, hole ich mit der anderen mein Handy aus der Hosentasche. Als ich das Display entsperre, entdecke ich auf meinem Handrücken lauter schwarze Mascaraspuren.
Ich gehe in meine Kontakte. Nach wie vor ist Graham direkt unter James in meinen Favoriten eingespeichert, auch wenn ich schon seit Monaten nicht mehr mit ihm gesprochen habe. Er wei? nichts von unserem Baby, geschweige denn davon, dass meine Mum gestorben ist. Ich habe mich an seinen Wunsch gehalten und ihn nicht mehr angerufen. Noch nie in meinem Leben ist mir irgendetwas so schwergefallen. über zwei Jahre lang hatten wir beinahe t?glich miteinander Kontakt – und dann hat es pl?tzlich aufgeh?rt, von einem Tag auf den anderen. Damals kam es mir vor wie ein kalter Entzug.
Und jetzt … habe ich einen Rückfall. Wie von selbst w?hle ich seine Nummer und lausche mit angehaltenem Atem dem Freizeichen. Nach einem Moment verschwindet es. Ich schlie?e die Augen und versuche angestrengt, herauszuh?ren, ob er abgehoben hat oder nicht. In diesem Moment habe ich das Gefühl, dass ich in der einsamen Hilflosigkeit, die ich seit Tagen spüre, ertrinken k?nnte.
?Keine Anrufe mehr. Das hatten wir abgemacht?, sagt er leise. Der Klang seiner sanften, kratzigen Stimme gibt mir den Rest. Mein K?rper wird von einem heftigen Schluchzen erschüttert. Ich presse mir die freie Hand auf den Mund, damit Graham es nicht h?rt.
Doch dafür ist es zu sp?t.
?Lydia??
Ich nehme die Panik in seiner Stimme wahr, aber ich kann nichts sagen, nur den Kopf schütteln. Mein Atem geht unkontrolliert und viel zu schnell.
Graham legt nicht auf. Er bleibt am H?rer und macht leise, bes?nftigende Ger?usche. Ihn zu h?ren wühlt mich einerseits total auf, aber andererseits fühlt es sich so unglaublich vertraut an, dass ich das Handy noch fester an mein Ohr presse. Ich glaube, seine Stimme war damals einer der Gründe, warum ich mich in ihn verliebt habe – lange bevor ich ihn überhaupt zum ersten Mal gesehen habe. Ich erinnere mich an die stundenlangen Telefonate, an mein hei?es, schmerzendes Ohr, daran, dass ich aufgewacht bin und Graham immer noch am H?rer war. Seine Stimme sanft und leise, tief und mindestens so durchdringend wie seine goldbraunen Augen.