Bei Graham habe ich mich immer sicher gefühlt. über eine lange Zeit hinweg war er mein Fels. Ihm habe ich es zu verdanken, dass ich die Sache mit Gregg irgendwann abhaken und wieder nach vorn blicken konnte.
Und obwohl ich v?llig am Ende bin, k?mpft sich dieses Gefühl der Geborgenheit gerade wieder nach oben. Allein seine Stimme zu h?ren hilft mir dabei, einigerma?en zu Bewusstsein zu kommen. Ich wei? nicht, wie lange ich so dasitze, aber nach und nach versiegen meine Tr?nen.
?Was ist los??, flüstert er schlie?lich.
Ich kann nicht antworten. Alles, was mir gelingt, ist, einen hilflosen Laut auszusto?en.
Eine Minute lang bleibt er still. Ich kann ihn ein paarmal einatmen h?ren, als würde er etwas sagen wollen, aber im letzten Moment h?lt er sich immer zurück. Als er schlie?lich spricht, ist seine Stimme leise und schmerzerfüllt: ?Es gibt nichts, was ich lieber t?te, als jetzt zu dir zu fahren und für dich da zu sein.?
Ich schlie?e die Augen und stelle mir vor, wie er in seiner Wohnung sitzt, an dem alten Holztisch, der aussieht, als würde er jeden Moment auseinanderbrechen. Graham bezeichnet ihn als ?antik?, dabei hat er ihn in Wahrheit einfach nur vom Sperrmüll mitgenommen und neu lackiert.
?Ich wei??, flüstere ich.
?Aber du wei?t auch, dass ich nicht kann, oder??
Im Salon geht irgendetwas zu Bruch. Ich h?re das Klirren von Glas, gleich darauf brüllt jemand laut. Ob es vor Schmerz oder aus Spa? ist, kann ich nicht sagen, nichtsdestotrotz richte ich mich sofort auf. Ich darf nicht zulassen, dass James sich jetzt auch noch k?rperlich verletzt.
?Tut mir leid, dass ich angerufen habe?, flüstere ich mit gebrochener Stimme und beende das Gespr?ch.
Mein Herz sticht, als ich mich erhebe und die geschützte kleine Ecke verlasse, um nach meinem Bruder zu sehen.
Ember
Meine Schwester ist krank.
Unter normalen Umst?nden würde ich sagen, dass das nichts Au?ergew?hnliches ist – schlie?lich haben wir Dezember, drau?en herrschen Minusgrade, und egal, wo man hinkommt, wird geschnieft und gehustet. Da ist es eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis man sich ansteckt.
Blo? – meine Schwester ist nie krank. Wirklich nie.
Als Ruby vor drei Tagen sp?tabends nach Hause gekommen und ohne ein einziges Wort ins Bett gegangen ist, habe ich mir nichts dabei gedacht. Schlie?lich hatte sie gerade einen Bewerbungsmarathon in Oxford hinter sich, der mit Sicherheit nicht nur psychisch, sondern auch k?rperlich anstrengend war. Als sie dann aber am n?chsten Tag behauptete, sie habe eine Erk?ltung und k?nne nicht zur Schule gehen, wurde ich skeptisch. Wer Ruby kennt, wei? n?mlich ganz genau, dass sie sich selbst mit Fieber in den Unterricht schleppen würde, aus Angst, irgendetwas Wichtiges zu verpassen.
Heute ist Samstag, und inzwischen mache ich mir richtige Sorgen. Ruby hat kaum ihr Zimmer verlassen. Sie liegt in ihrem Bett, liest ein Buch nach dem anderen und tut so, als w?re ein Schnupfen schuld an ihren roten Augen. Aber sie kann mir nichts vormachen. Irgendetwas Schlimmes ist passiert, und es macht mich verrückt, dass sie mir nicht erz?hlt, was.
Im Moment beobachte ich sie durch den Türspalt dabei, wie sie in ihrer Suppe herumrührt, ohne etwas davon zu essen. Ich kann mich nicht daran erinnern, sie jemals zuvor so erlebt zu haben. Ihr Gesicht ist bleich, und unter ihren Augen befinden sich bl?uliche Ringe, die mit jedem Tag dunkler werden. Ihre Haare sind fettig und h?ngen ungek?mmt zu beiden Seiten ihres Gesichts hinab, au?erdem tr?gt sie dieselbe schlabbrige Kleidung wie gestern und vorgestern. Normalerweise ist Ruby die Definition von ?geordnet?. Nicht nur, wenn es um ihren Planer oder die Schule geht, sondern auch bei ihrem Erscheinungsbild. Ich wusste nicht mal, dass sie überhaupt Schlabberkleidung besitzt.
?H?r auf, vor meiner Tür zu kauern?, sagt sie pl?tzlich, und ertappt zucke ich zusammen. Ich tue so, als h?tte ich ihr Zimmer ohnehin betreten wollen, und schiebe mich durch die Tür.
Ruby sieht mich mit hochgezogener Braue an. Dann stellt sie die Suppe neben dem Bett auf dem Tablett ab, auf dem ich sie ihr gebracht habe. Ich unterdrücke ein Seufzen.
?Wenn du sie nicht isst, esse ich sie?, drohe ich mit einem Nicken auf die Suppe, was leider nicht den gewünschten Effekt hat. Ruby macht nur eine vage Handbewegung.
?Tu dir keinen Zwang an.?
Mit einem frustrierten Laut lasse ich mich auf den Rand ihres Bettes sinken. ?Ich habe dich in den letzten Tagen mit aller Mühe in Ruhe gelassen, weil ich gemerkt habe, dass du nicht sonderlich scharf darauf bist zu reden, aber … ich mache mir wirklich Sorgen um dich.?
Ruby zieht ihre Decke hoch bis ans Kinn, sodass nur noch ihr Kopf herausguckt. Ihr Blick ist trüb und traurig, als würde sie das, was geschehen ist, in diesem Moment mit voller Wucht einholen. Doch dann blinzelt sie und ist wieder da – oder tut zumindest so. Seit letztem Mittwoch ist da ein sonderbarer Ausdruck in ihren Augen. Es kommt mir vor, als w?re sie nur k?rperlich anwesend, geistig aber ganz woanders.