James
Silvester ist bei uns normalerweise legend?r. In den vergangenen Jahren haben wir uns entweder eine Villa an einem See gemietet oder Partys in London gefeiert, die schon Monate im Voraus ausgebucht waren. Wir haben bis in die Morgenstunden getrunken und alles um uns herum vergessen.
Dieses Jahr verbringe ich Silvester allein zu Hause.
Wo mein Dad ist? Keine Ahnung. Unsere Angestellten haben heute Abend frei, und Lydia ist bei einer Freundin. Bei wem, hat sie mir nicht verraten. Seit unserem Streit vor ein paar Tagen ignoriert sie mich und spricht nur mit mir, wenn es sein muss.
Wren hat mehrmals versucht, mich zu überreden, auch dieses Jahr mit ihm und den Jungs wegzufahren, aber ich konnte mich dazu nicht aufraffen. Allein wenn ich mir vorstelle, jetzt bei ohrenbet?ubender Musik und Champagner in einem Londoner Club zu sitzen, stellen sich mir die Nackenhaare auf. Ich kann nicht mehr so weitermachen wie bisher. Nicht, nachdem mein Leben sich im letzten Vierteljahr um einhundertachtzig Grad gedreht hat. Nicht, wenn es in mir drin vollkommen anders aussieht als früher.
Ich verbringe den Abend damit, mir Dokumentationen über wilde Tiere in der Savanne Kenias auf meinem Laptop anzuschauen und Pommes und Kebab aus Pappschachteln vom Lieferservice zu essen. Manchmal gelingt es mir, mich fünf Minuten am Stück abzulenken. Doch die allermeiste Zeit denke ich an Ruby.
In den letzten Wochen habe ich festgestellt, wie frustrierend es ist, dass wir nicht genügend gemeinsame Erinnerungen gesammelt haben. Es gibt keine Fotos von uns beiden, nichts, was mich an das erinnern k?nnte, was wir miteinander erlebt haben. Das Einzige, was übrig geblieben ist, ist die Tasche, die ich zu ihrem Geburtstag habe anfertigen lassen. Sie steht immer noch neben meinem Schreibtisch und verh?hnt mich t?glich. Ich kann l?ngst nicht mehr z?hlen, wie oft ich sie schon in die Hand genommen und nachgesehen habe, ob Ruby vielleicht etwas darin vergessen hat. Eine Notiz oder irgendetwas, was einen Hinweis darauf gibt, dass sie sie wirklich benutzt und sich darüber gefreut hat.
Ich habe das Gefühl, meine Erinnerungen beginnen langsam zu verblassen. Das Gefühl von Rubys Haut an meiner, unsere Gespr?che, ihr Lachen. Alles wird immer schwammiger und ungreifbarer, selbst der Tag, an dem sie hier war und mich getr?stet hat. Das Einzige, was ich nach wie vor deutlich vor Augen habe und was sich immer und immer wieder in meinem Kopf abspielt, ist der Ausdruck auf ihrem Gesicht, als sie mich mit Elaine gesehen hat. Ich werde ihn nie vergessen. Und ich werde auch nie vergessen, was er – selbst durch die Alkohol-und Drogenwolke hindurch – mit mir gemacht hat. In jenem Moment, aber auch all die Tage danach.
Eigentlich war der Plan, ins neue Jahr zu schlafen, aber inzwischen ist es nach eins, und ich werde immer wacher. Kurzerhand beschlie?e ich, noch mal in den Fitnessraum zu gehen. Vielleicht wird eine Stunde auf dem Laufband nicht nur meinen K?rper müde machen, sondern auch meinen Kopf zum Schweigen bringen.
Ich ziehe mir meine Sportsachen an, schlüpfe in die Laufschuhe und schnappe mir mein iPhone, das seit heute Nachmittag unbeachtet auf meinem Schreibtisch gelegen hat. Die Kopfh?rer sind noch eingesteckt, und wie immer muss ich sie erst entwirren. Gerade als ich sie mir in die Ohren stecken will, h?re ich, wie jemand den Flur entlanggeht.
Wahrscheinlich ist Lydia wieder zu Hause.
Ich ?ffne die Tür, um ihr ein frohes neues Jahr zu wünschen – und erstarre.
Meine Schwester steht nicht allein im Flur.
Ich reibe mir über die Augen, weil ich glaube zu tr?umen – aber nein. Nachdem ich die Hand wieder sinken lasse, sehe ich immer noch zwei Personen.
Ruby steht in unserem Flur.
Unter dem Arm hat sie ein dunkelblaues Kn?uel geklemmt. Ich muss nicht lang grübeln, um zu wissen, worum es sich dabei handelt. Es ist mein Pullover. Der, den ich ihr nach Cyrils Party übergezogen habe. Der, den ich nicht in meinem Schrank vermisst habe, weil es mir ein gutes Gefühl gegeben hat, zu wissen, dass er bei Ruby ist.
Ruby spricht leise mit meiner Schwester, woraufhin diese nickt. Sie wirft mir einen kurzen Blick zu, sieht aber sofort wieder weg und verschwindet in ihrem Zimmer. Gut zu wissen, dass ich meine Schwester so vergrault habe, dass sie es noch nicht mal über sich bringt, mir ein frohes neues Jahr zu wünschen.
?K?nnen wir reden??, fragt Ruby schlie?lich.
Ich schlucke schwer. Ich habe sie so lange nicht gesehen oder geh?rt, und jetzt steht sie nur knapp drei Meter entfernt von mir. Ihre N?he l?sst mein Herz wild pochen, am liebsten würde ich die Distanz zwischen uns überbrücken und sie in den Arm nehmen. Schlie?lich nicke ich nur, drehe mich um und gehe zurück in mein Zimmer. Ruby folgt mir z?gerlich. Ich knipse das Licht an und seufze. Hier drin hat es definitiv schon mal besser ausgesehen. Mitten auf dem Boden liegt die karierte Schlafanzughose, die ich eben abgestreift habe, überall fliegen Magazine rum, das Bett ist ungemacht, und vermutlich riecht es nach fettigem Lieferessen.