?Hey?, sagt er mit kratziger Stimme.
Am liebsten würde ich ihn umarmen für dieses eine mickrige Wort. Es gab eine Zeit, da hat es mich wahnsinnig gemacht, dass er jeden so begrü?t, aber inzwischen kommt mir dieses Wort aus seinem Mund vertraut vor. Und es wirkt beinahe normal.
?Guten Morgen?, gebe ich zurück und halte ihm die Tür auf. Mit einem Nicken bitte ich ihn rein.
Der Moment, in dem er mit einem leisen R?uspern über die Türschwelle unseres Hauses tritt, kommt mir wahnsinnig bedeutsam vor. Ich frage mich, ob er wei?, dass er der erste Junge ist, den ich mit nach Hause bringe. Der erste, der mir so viel bedeutet und dem ich – selbst jetzt – genügend vertraue, dass ich ihn meinen Eltern vorstellen werde.
Der Anblick von James in unserem kleinen Flur ist ungewohnt, gleichzeitig frage ich mich, wie es sein kann, dass ich vor diesem Moment so gro?e Angst hatte. Alles hieran fühlt sich richtig an.
James tr?gt einen grauen Mantel, der dezent kariert ist, darunter eine schwarze Hose aus einem weichen Stoff und einen schlichten Wollpullover in derselben Farbe. Auch seine Lederschuhe sind schwarz. Sein rotblondes Haar ist wie immer durcheinander und leicht gewellt, als h?tte er eben erst geduscht und es an der Luft trocknen lassen. Am liebsten würde ich es berühren.
?Magst du mir deinen Mantel geben??, frage ich stattdessen.
James nickt gedankenverloren, w?hrend er sich umsieht. Sein Blick bleibt ausgerechnet an den peinlichen Kinderfotos von Ember und mir h?ngen. Auf einem tanzen wir im Garten, auf einem anderen pflücken wir ?pfel, und auf wieder einem anderen sitzen wir strahlend und zahnlos im Planschbecken unserer Tante. James sieht sie alle an, w?hrend er in einer geschmeidigen Bewegung den Mantel von seinen Schultern gleiten l?sst und mir anschlie?end reicht.
Ich muss mich ernsthaft konzentrieren, ihn nicht allzu sehr anzustarren. Da ich mir das in den letzten Wochen so streng verboten habe, scheint es jetzt umso verführerischer.
Ich konzentriere mich darauf, seine Jacke ordentlich an der Garderobe aufzuh?ngen, und gehe dann zum Wohnzimmer. James folgt mir, doch bevor ich die Tür ?ffne, drehe ich mich blitzartig um und schaue zu ihm hoch.
?Bist du Vegetarier??
James blinzelt mehrmals. Sein einer Mundwinkel zuckt, als er langsam den Kopf schüttelt. ?Nein, bin ich nicht.?
Ich atme auf. ?Gut.?
Als ich die Klinke nach unten drücke und mit James dicht hinter mir das Wohnzimmer betrete, flattert es in meinem Magen nerv?s.
?Mum, Dad, das ist James?, sage ich und deute auf meinen Begleiter.
James holt h?rbar Luft, bevor er zu meiner Mum geht und ihr die Hand reicht. ?Freut mich, Sie kennenzulernen, Mrs Bell.?
?Hallo, James?, sagt Mum und l?chelt ihn warm an. ?Nenn mich doch Helen.?
Von ihrer vorherigen Skepsis ist nichts mehr zu sehen, und ich frage mich, ob sie tats?chlich eine so hervorragende Schauspielerin ist oder ob sie Nachsicht mit James walten l?sst, weil sie wei?, wie sehr ihn der Tod seiner Mum mitgenommen haben muss, und er ihr leidtut.
?Alles klar?, sagt James. ?Helen.?
Dad ist nicht so gut darin, seinen Argwohn zu verbergen. Sein Blick ist kühl und absch?tzend, und so wie es aussieht, zerquetscht er James’ Hand, als er sie schüttelt. James verzieht keine Miene.
Zum Glück unterbricht Mum den unangenehmen Moment. ?Wir würden dich heute gern zum Essen einladen, James?, sagt Mum. ?Damit wir uns alle ein bisschen kennenlernen k?nnen.?
Ich schlie?e die Augen und widerstehe dem Drang, meine Finger auf die Nasenwurzel zu pressen. Ich hoffe, James ist nicht schon jetzt überfordert von meiner Familie.
?Sehr gern?, antwortet dieser jedoch, ohne auch nur eine Sekunde zu z?gern. ?Ich habe heute nichts mehr vor.?
?Fabelhaft?, sagt Dad, ohne jegliche Betonung in seiner Stimme.
Danach herrscht kurz ein peinliches Schweigen, und ich packe James hastig am Arm, um ihn nach oben und in die Freiheit zu ziehen. Schon auf der Treppe realisiere ich allerdings, was ich da gerade getan habe: Ich habe James einfach berührt, als w?re es nichts Besonderes. Als würden wir das st?ndig tun, weil wir vertraut miteinander sind.
Schnell lasse ich ihn wieder los.
?Ich habe nicht aufger?umt oder so?, erkl?re ich, als wir vor meinem Zimmer zum Stehen kommen.
James schüttelt den Kopf. ?Nicht schlimm. Ich habe dich ja auch quasi überfallen.?
Ich nicke und mache dann die Tür auf. Ich lasse James den Vortritt und gehe hinter ihm her. Es ist irgendwie merkwürdig, sich mit ihm in diesem mir so vertrauten und geschützten Raum zu befinden. Ich fühle mich automatisch wohl, aber gleichzeitig ist da diese kribbelige Ungewissheit in mir, was dieses Gespr?ch – dieser ganze Tag – mit sich bringen würde.