Lydia und ich gehen gemeinsam die breite dunkelbraune Holztreppe nach oben. Dabei f?llt mir auf, dass es im Haus der Beauforts deutlich freundlicher aussieht, als es von au?en den Anschein macht. Das Foyer ist hell und einladend. Zwar h?ngen hier keine Familienfotos an den W?nden wie bei uns, wenigstens aber auch keine ?lgem?lde von seit Jahrhunderten verstorbenen Familienmitgliedern in goldenen Rahmen wie bei den Vegas. Die Bilder, die man hier angebracht hat, sind bunt und impressionistisch, und auch wenn sie keinen besonders pers?nlichen Eindruck machen, vermitteln sie eine willkommene Atmosph?re.
Oben angekommen biegen wir in einen Flur ein, der dunkler ist und so lang, dass ich mich unweigerlich frage, was sich hinter all den Türen, an denen wir vorbeigehen, verbirgt. Und wie es m?glich ist, dass hier nur eine einzige Familie lebt.
?Da w?ren wir?, murmelt Lydia pl?tzlich und bleibt vor einer gro?en Tür stehen. Einen Augenblick starren wir beide darauf, dann dreht sie sich zu mir. ?Ich wei?, es ist viel verlangt, aber ich habe das Gefühl, dass er dich jetzt wirklich braucht.?
Ich kann meine Gedanken und Gefühle kaum sortieren. Mein K?rper scheint zu wissen, dass James sich hinter der Tür befindet – ich werde von ihm angezogen wie ein Magnet. Und auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob ich ihm in der Weise helfen kann, die Lydia sich erhofft, m?chte ich trotzdem für ihn da sein.
Lydia berührt kurz meinen Arm. ?Ruby … Zwischen James und Elaine ist nichts gewesen au?er diesem Kuss.?
Ich versteife mich.
?James ist sofort danach aus dem Pool gekommen und auf einem Sessel zusammengeklappt. Ich wei?, er kann grausam sein, aber …?
?Lydia?, unterbreche ich sie.
?… er war nicht er selbst.?
Ich schüttle den Kopf. ?Das ist nicht der Grund, weshalb ich hergekommen bin.?
Ich kann mir darüber im Moment keine Gedanken machen. Denn wenn ich das tue – wenn ich mir erlaube, über James und Elaine nachzudenken –, werden die Wut und die Entt?uschung überwiegen, und dann schaffe ich es nicht, durch diese Tür zu gehen.
?Ich kann das gerade nicht h?ren.?
Einen Moment lang sieht Lydia so aus, als wollte sie widersprechen, aber schlie?lich seufzt sie nur. ?Ich wollte lediglich, dass du das wei?t.?
Dann macht sie kehrt und geht den langen Flur zurück bis zum Treppenhaus. Ich sehe ihr nach, bis sie an der Treppe angekommen ist, wo eine lange Lichtspur auf den teuren Teppich geworfen wird. Als sie vollst?ndig aus meinem Blickfeld verschwunden ist, drehe ich mich wieder zur Tür.
Ich glaube nicht, dass mir jemals in meinem Leben etwas so schwergefallen ist, wie nach diesem Knauf zu greifen. Er fühlt sich kühl unter meinen Fingern an, und ein Schauer geht über meinen Rücken, als ich ihn z?gerlich drehe und die Tür ?ffne.
Mit angehaltenem Atem stehe ich auf der Schwelle zu James’ Zimmer.
Der Raum hat hohe Decken und umfasst mit Sicherheit die Gr??e des gesamten oberen Stockwerks unseres winzigen Reihenhauses. Zu meiner rechten Seite befindet sich ein Schreibtisch mit einem braunen Lederstuhl davor. Zu meiner linken erstrecken sich Regale an der Wand, gefüllt mit Bucheinb?nden, Notizbüchern, zwischendurch ein paar Kunstfiguren, die mich an die erinnern, die ich damals in der Filiale bei Beaufort gesehen habe. Au?er der Tür, durch die ich gerade gekommen bin, gibt es noch zwei weitere auf beiden Seiten des Raums. Sie sind aus massivem Holz, und ich vermute, dass eine in das Badezimmer, die andere – etwas kleinere – in James’ Kleiderschrank führt. In der Mitte des Raums ist eine Sitzecke mit einem Sofa, einem Wohnzimmertisch auf einem Perserteppich und einem Ohrensessel.
Vorsichtig durchquere ich das Zimmer. Ein Kingsize-Bett befindet sich direkt gegenüber von der Tür auf der anderen Seite des Raums. Zu beiden Seiten des Bettes sind gro?e Fenster, doch die Vorh?nge sind beinahe vollst?ndig zugezogen, sodass lediglich zwei schmale Lichtstreifen auf den Boden geworfen werden.
Ich entdeckte James sofort.
Er liegt im Bett, über ihm eine dunkelgraue Decke, die einen Gro?teil seines K?rpers bedeckt. Vorsichtig n?here ich mich, bis ich sein Gesicht sehen kann.
Keuchend schnappe ich nach Luft.
Ich dachte, dass James schl?ft … doch seine Augen sind offen. Und sein Blick jagt mir einen eiskalten Schauer über den Rücken.
James’ Augen – normalerweise immer so ausdrucksstark – sind leblos. Sein Gesicht ist vollkommen leer.
Ich mache einen weiteren Schritt auf ihn zu. Er reagiert nicht, gibt kein Zeichen, dass er meine Anwesenheit bemerkt hat. Stattdessen starrt er direkt durch mich hindurch. Seine Pupillen sind unnatürlich weit, und der Geruch von Alkohol liegt schwer in der Luft. Unwillkürlich muss ich an Mittwochabend denken, aber ich dr?nge die Erinnerung zurück. Ich bin nicht hergekommen, um über meine verletzten Gefühle nachzudenken. Ich bin hergekommen, weil James seine Mum verloren hat. Niemand sollte so etwas allein durchstehen. Schon gar nicht jemand, an dem mir – trotz allem – so viel liegt.