Ein heftiges Stechen f?hrt in meinen Magen, und es kostet mich gro?e Mühe, mich nicht zusammenzukrümmen.
Dann rempelt mich jemand von der Seite an – und ich bin wieder in Maxton Hall. Statt des Kusses sehe ich die leere Kellertreppe und Menschen, die sich in Richtung Cafeteria bewegen. Auch der krampfartige Schmerz in meinem Magen ist abgeebbt.
Ich hole tief Luft. Dieser ganze Schultag war bis jetzt nichts als eine einzige Achterbahnfahrt. Jedes Mal, wenn ich nach oben fahre und beim Kamm ankomme – denke, dass alles normal ist und ich das schon irgendwie schaffe –, sehe ich pl?tzlich etwas, was mich an James erinnert, und werde wieder in die Tiefe, in einen Strudel aus Schmerz gerissen.
?Ruby??, sagt Lin neben mir, ihrer besorgten Miene nach zu urteilen, nicht zum ersten Mal in den letzten Minuten. ?Alles okay??
Ich zwinge ein L?cheln auf mein Gesicht und nicke.
Lin runzelt die Stirn, hakt aber nicht weiter nach. Stattdessen tut sie das, was sie schon den gesamten Vormittag über versucht hat: mich abzulenken. W?hrend sie mich zum Eingang der Cafeteria führt, erz?hlt sie mir von der neuen Reihe von Tsugumi Ohba und Takeshi Obata, die sie verschlungen hat. Sie ist so begeistert davon, dass ich augenblicklich mein Bullet Journal heraushole und die Mangas auf meine Leseliste setze.
Nachdem wir fertig gegessen haben, bringen wir unsere Tabletts zur Geschirrrückgabe. An der Wand daneben lehnt ein M?dchen, das ich nicht kenne. Sie unterh?lt sich mit einem Typ, verstummt aber, als sie mich sieht. Ihre Augen werden gro?, und sie rammt ihm – nicht mal sonderlich unauff?llig – den Ellbogen in die Seite. Ich versuche, die beiden zu ignorieren.
?Bist du nicht das M?dchen, das auf Cyril Vegas Party in den Pool geschmissen wurde??, fragt sie und kommt einen Schritt auf mich zu.
Bei ihren Worten zucke ich zusammen. Dieser verdammte Pool ist für mich nur mit schrecklichen Erinnerungen verbunden, die ich am liebsten mit einer Lobotomie aus meinem Gehirn entfernen lassen würde.
Ohne zu antworten, warte ich darauf, dass das Band weiterf?hrt, damit ich mein Tablett abstellen und von hier verschwinden kann.
?James Beaufort hat dich doch damals nach drau?en getragen. Es gehen Gerüchte rum, dass du seine heimliche Freundin bist. Stimmt das??, f?hrt sie fort.
Es fühlt sich an, als würden sich die W?nde der Cafeteria langsam, aber sicher auf mich zubewegen. Mit Sicherheit würden sie mich jede Sekunde unter sich zermalmen.
?W?re sie seine Freundin, w?re sie ja wohl bei der Beerdigung gewesen?, gibt der Typ gerade so laut zurück, dass ich ihn h?ren kann.
?Na ja, deshalb liegt die Betonung ja auch auf heimlich. Vielleicht ist sie eines seiner schmutzigen Geheimnisse. Du wei?t, wie viele er davon hat.?
Ein lautes Klirren ert?nt.
Ich habe das Tablett fallen lassen.
überall zu meinen Fü?en liegen Scherben. Ich starre auf ein paar Erbsen, die über den Boden rollen, und schaffe es nicht, mich zu bewegen, um sie aufzuheben. Mein K?rper ist wie erstarrt.
?H?rt auf, so einen Dreck zu reden?, erklingt eine dunkle Stimme neben mir. Im n?chsten Moment legt sich ein Arm um meine Schulter, und ich werde aus der Mensa eskortiert. Hinter mir kann ich wie aus weiter Ferne Lin h?ren, die etwas ruft, aber Dunkle Stimme geht unbeirrt weiter und bringt mich weg von der Mensa bis ins Treppenhaus. Erst dann verschwindet der Arm von meiner Schulter, und die Person tritt vor mich. Ich blicke an der beigen Hose hinauf über den dunkelblauen Blazer in … Keshav Patels Gesicht.
Mehrmals muss ich blinzeln, bis ich realisiere, dass tats?chlich er es ist, der vor mir steht. Er hat das schwarze Haar zu einem tiefen Knoten gebunden und streicht gerade eine Str?hne nach hinten, die sich daraus gel?st hat. Danach richtet er seine dunkelbraunen, beinahe schwarzen Augen auf mich.
?Alles okay bei dir??, fragt er leise.
Ich glaube, ich kann an einer Hand abz?hlen, wie oft ich Keshav reden geh?rt habe. Von James’ Freunden ist er derjenige, der am stillsten ist. W?hrend ich Alistair, Cyril und Wren inzwischen wenigstens ein bisschen einsch?tzen kann, ist er für mich ein Buch mit sieben Siegeln.
?Ja?, kr?chze ich schlie?lich und r?uspere mich gleich darauf.
Ich blicke mich um und realisiere, wo wir uns befinden. Meine erste richtige Begegnung mit James hat hier stattgefunden: unter der Treppe, verborgen vor den Augen Neugieriger. Hier hat er versucht, mich zu bestechen, und ich habe ihm sein d?mliches Geld um die Ohren geworfen. Ich frage mich, ob mich in dieser verfluchten Schule ab sofort alles an James erinnern wird.
?Gut?, sagt Keshav. Im n?chsten Moment dreht er sich um, vergr?bt die H?nde in den Taschen und geht. Ich sehe ihm hinterher, bis er aus meinem Blickfeld verschwunden ist. Nach nicht einmal einer halben Minute eilt Lin mit finsterer Miene aus der Mensa und schaut sich suchend um.