Die Ferien kommen mir mehr als gelegen. Wenigstens habe ich so die Gelegenheit, etwas Abstand zwischen mich und die Maxton Hall zu bringen. Denn auch wenn James erst im n?chsten Term wieder an die Schule zurückkommt, werde ich dennoch bei jeder Ecke, um die ich biege, und bei jedem Raum, in den ich gehe, von der Panik erfasst, er k?nnte dort stehen. Und das h?tte ich nicht verkraftet. Noch nicht.
Zum Glück ist meine Familie sehr gut im Ablenken. Mum und Dad kabbeln sich in der Küche und brauchen mich mindestens einmal am Tag als Schiedsrichterin, die entscheiden muss, ob die Kekse, die Mum backt, mit oder ohne die exotische Gewürznote, die Dad hinzugegeben hat, besser schmecken. In den Jahren davor war ich in den meisten F?llen auf Mums Seite, aber ich stelle überrascht fest, dass ich diesmal auch Dads Kreationen etwas abgewinnen kann.
Den Rest der Zeit spannt Ember mich für alle m?glichen anderen Aufgaben ein. Wir machen gefühlt zweitausend Shootings für ihren Blog, auch wenn ich mir sicher bin, dass die H?lfte der Fotos nichts geworden ist, weil meine Finger viel zu sehr in der K?lte gezittert haben. Au?erdem hat sie sich dieses Jahr die Geschenke für unsere Familie ausgedacht, was normalerweise meine Lieblingsbesch?ftigung vor Weihachten ist. Ihre Ideen waren toll: Unsere Gro?eltern bekommen einen Kalender, den wir mit Familienfotos beklebt haben, und Mum einen von uns pers?nlich zusammengestellten Wellnesskorb. Für Dad hat Ember in den Kleinanzeigen ein hübsches neues Gewürzregal aus den Sechzigern gefunden, das uns der ehemalige Besitzer nach ein bisschen Feilschen für gerade einmal zehn Pfund überlassen hat.
?Du bist knallhart beim Handeln?, sagt Ember, als wir es in unserer kleinen Garage notdürftig putzen. Mit gerümpfter Nase entfernt sie die Spinnweben von der Rückseite des Regals. ?Vielleicht solltest du dich beruflich noch einmal umorientieren.?
Ich bin gerade dabei, Zeitungspapier auf dem Boden auszulegen, damit wir gleich mit dem Lackieren beginnen k?nnen, und setze ein gezwungenes Grinsen auf.
Eine kleine, nachdenkliche Falte bildet sich zwischen ihren Brauen, als sie mich prüfend ansieht.
?M?chtest du nicht endlich mit mir sprechen??
?über was??, entgegne ich tonlos.
Sie st??t ein kurzes Lachen aus. ?über die Tatsache, weshalb du dich wie ein Roboter verh?ltst? über alles, was dich bedrückt??
Bei ihren Worten zucke ich zusammen. Bis zu diesem Moment hat Ember mich nicht auf mein Verhalten angesprochen, sondern so getan, als w?re es normal, dass ich mein Zimmer nur im ?u?ersten Notfall verlasse und kaum ein Wort mit irgendjemandem spreche. Sie hat mich nicht bedr?ngt und keine Fragen gestellt, wofür ich ihr unglaublich dankbar bin.
Offenbar ist diese Schonfrist nun vorbei.
Sie wei? nicht, was zwischen James und mir in Oxford geschehen ist, geschweige denn davon, dass er danach Elaine geküsst hat. Ich hatte das Gefühl, dass ich diese ganze Sache erst mit mir selbst ausmachen muss, bevor ich mit jemandem darüber reden kann. Die Tage in der Schule zu überstehen hat mich schon Kraft genug gekostet. Doch Ember ist nicht nur meine Schwester, sondern auch meine beste Freundin. Ich wei?, dass ich ihr vertrauen kann. Und vielleicht ist es an der Zeit, dass ich diese Last nicht mehr ganz allein mit mir herumtrage.
Ich hole tief Luft. ?Ich habe mit James geschlafen.?
Das war eigentlich nicht das Erste, was ich sagen wollte, aber okay.
Ember l?sst den Staubf?nger fallen. ?Du hast was??
Ohne sie anzusehen, beginne ich, die Mundschutze aus der Verpackung zu nehmen und sie zurechtzulegen. Ich zupfe an den Gummib?ndern, die hinter den Ohren befestigt werden.
?Einen Tag sp?ter hat er mit einem anderen M?dchen rumgemacht?, sage ich mit brüchiger Stimme. Ich starre auf die wei?en B?nder des Mundschutzes, als Ember zu mir kommt und sich neben mich auf die Zeitung kniet. ?Ruby?, sagt sie leise. Vorsichtig legt sie mir eine Hand zwischen die Schulterbl?tter, und ich spüre, wie mein letzter Widerstand br?ckelt.
Ember und ich haben einander nicht immer so nahegestanden wie jetzt. Wir sind erst nach Dads Unfall eng zusammengewachsen, als wir einander Halt gegeben haben, wenn es ihm schlecht ging und er wieder einmal auf die ganze Welt wütend war. Auch wenn wir ihn verstehen konnten, war diese Zeit nicht leicht für uns. Nur gemeinsam haben wir das durchgestanden.
Das, was uns seitdem verbindet, ist nichts, was ich jemals mit einer anderen Person haben werde, und als Ember meine Schulter drückt, brechen die Worte einfach aus mir heraus. Ich erz?hle ihr alles: von der Halloween-Party, von James’ Vater und den Erwartungen, die dieser an seinen Sohn stellt, davon, wie sehr James unter diesem Druck leidet, von Oxford und all dem, was er und ich miteinander geteilt haben. Von jenem Abend, an dem Lydia zu uns kam und mit mir zu Cyril gefahren ist. Von James, der gekokst hat und anschlie?end in den Pool gesprungen ist. Und von Elaine Ellington.