Der apathische Blick in ihren Augen sagt jedoch etwas anderes.
?Hi?, sage ich leise, weil ich sie nicht erschrecken will.
Lydia hebt den Kopf und erblickt mich im Türrahmen. Sie ringt sich zu einem müden L?cheln durch. ?Hi, Ruby.?
Einen Moment lang bin ich unentschlossen, was ich machen soll, entscheide mich aber, zu ihr zu gehen und mich neben sie aufs Sofa zu setzen. Ich unterdrücke den Impuls, Small Talk zu machen und sie zu fragen, wie es ihr geht oder ob alles in Ordnung ist. Stattdessen warte ich.
Nach einer Weile schluckt Lydia schwer. ?Du hattest gesagt, dass ich mich melden soll, wenn ich etwas brauche.?
Einen Moment lang schaue ich sie perplex an, dann nicke ich schnell. ?Ja, natürlich. Egal, was es ist.?
Sie schaut unsicher in Richtung Wohnzimmertür, als würde sie nach jemandem Ausschau halten. Wahrscheinlich fürchtet sie, meine Eltern oder Ember k?nnten hereinkommen oder uns belauschen. Ich rücke ein Stückchen dichter an sie heran.
?Um was geht es??, frage ich leise.
Lydia atmet h?rbar aus. Dann drückt sie den Rücken durch, bis sie ganz aufrecht sitzt. ?Ich habe morgen einen Termin beim Frauenarzt und brauche jemanden, der mich begleitet.?
Es dauert ein paar Sekunden, bis ich realisiert habe, was sie gerade gesagt hat. ?Du m?chtest, dass ich mitkomme??, frage ich verblüfft.
Sie holt zittrig Luft, presst die Lippen fest aufeinander und nickt schlie?lich. ?Du bist die Einzige, die davon wei?.?
?Ist denn irgendetwas los? Hast du Beschwerden oder so??
Lydia schüttelt den Kopf. ?Nein, es ist nur eine Vorsorgeuntersuchung. Aber ich m?chte … nicht allein dorthin fahren.?
Ich frage mich, wie viel überwindung es sie gekostet hat, hierherzukommen und das zu sagen. Bis zu diesem Moment war mir nicht bewusst, wie einsam Lydia sich wirklich fühlen muss. Ich bin die Einzige, die sie darum bitten kann, mit ihr zu einem Arzttermin zu gehen, der ihr mit Sicherheit Angst macht und vor dem sie aufgeregt ist.
Es gibt für mich nur eine einzige Antwort auf ihre Frage, und sie kommt wie selbstverst?ndlich aus mir heraus:
?Natürlich begleite ich dich.?
Das Behandlungszimmer ist vor allem eins: steril. Die W?nde sind wei? und bis auf ein einziges Gem?lde bilderlos. Hinter dem Schreibtisch im linken Teil des Raums befindet sich ein breites Fenster mit zugezogenen Jalousien, rechts daneben eine Ecke, vor der ein hellblauer Vorhang angebracht ist, hinter dem Lydia sich mit Sicherheit gleich umziehen soll.
Wir sitzen auf den beiden Stühlen am Schreibtisch und beobachten die ?rztin Dr. Hearst dabei, wie sie in Lichtgeschwindigkeit etwas in ihren Computer eintippt.
Zu Beginn war es ein bisschen merkwürdig, mit Lydia hierherzukommen. Doch sp?testens als sie von einer Arzthelferin aufgefordert wurde, in einen Becher zu pinkeln, war mir klar, dass wir den richtigen Zeitpunkt für Scham beide verpasst hatten.
Jetzt rupft Lydia neben mir an ihrem karierten Schal herum, w?hrend sie immer wieder zur Tür schielt. Vielleicht spielt sie mit dem Gedanken, aufzuspringen und zu fliehen. Als ihr Blick meinen streift, l?chle ich ihr zuversichtlich zu – oder versuche es zumindest. Ich wei? nicht, was genau meine Aufgabe hier ist, also tue ich, was ich mir in dieser Situation von meiner Begleitung wünschen würde. Es scheint zu funktionieren, denn Lydias Schultern entspannen sich ein kleines bisschen.
Nachdem Dr. Hearst fertig mit dem Eintrag am PC ist, legt sie ihre H?nde gefaltet auf dem Tisch vor sich ab und beugt sich ein Stück vor. Ihr Gesicht wirkt freundlich, obwohl ihr dunkles Haar in einen strengen Knoten zurückgebunden ist. Sie hat viele Lachfalten, warme braune Augen und eine angenehme, ruhige Stimme.
?Ms Beaufort, wie geht es Ihnen??, fragt sie.
Ich sehe Lydia an, die wiederum die ?rztin anschaut.
Pl?tzlich st??t sie einen hysterisch klingenden Laut aus, der wohl so etwas wie ein Lachen sein soll. Jedoch fasst sie sich schnell und r?uspert sich, als w?re nichts gewesen. ?Ganz okay, sch?tze ich.?
Dr. Hearst nickt verst?ndnisvoll. ?Bei Ihrer letzten Untersuchung haben Sie über schlimme übelkeit geklagt. Wie sieht es heute aus??
?Es ist besser geworden. Ich habe schon seit einer Woche nicht mehr spucken müssen. Allerdings habe ich manchmal ziemliche Schmerzen, wenn ich nach l?ngerem Sitzen aufstehe. Ist das normal??
Dr. Hearst l?chelt. ?Das ist kein Grund zur Sorge. Ihre Mutterb?nder dehnen sich gerade enorm, weil sie Platz für das Baby schaffen müssen. Gegen die Schmerzen kann ich Ihnen Magnesium verschreiben.?
?Okay, das klingt gut?, erwidert Lydia erleichtert.
Nach dem Gespr?ch schickt Dr. Hearst sie hinter den Vorhang, um sich frei zu machen. Ich bleibe auf meinem Stuhl sitzen und betrachte w?hrend der Untersuchung das Gem?lde, das über dem Schreibtisch h?ngt. Ich versuche herauszufinden, was die vielen Formen und Farben darstellen k?nnten – aber keine Chance. Es ist ein wilder Haufen aus Gelb, Rot und Blau und wahrscheinlich eines der seltsamsten Bilder, das ich je gesehen habe. Ich frage mich, ob es vielleicht ein Kind gemalt hat.