Müde schüttle ich den Kopf. ?Das glaube ich nicht. Ehrlich gesagt m?chte ich das auch überhaupt nicht.?
Es ist das erste Mal, dass ich das ausspreche. Aber es ist die Wahrheit. Ich glaube nicht, dass man das, was James und ich durchgemacht haben, irgendwann abhaken kann. Und ich will es auch überhaupt nicht. Vor allem nicht, wenn ich an all das denke, was in Zukunft auf mich zukommen wird. Es scheint, als l?ge ein Schatten über all meinen Tr?umen, und das nur, weil ich sie James anvertraut habe und danach so von ihm verletzt worden bin.
?Du k?nntest es versuchen?, schl?gt Lydia sanft vor, aber wieder schüttle ich den Kopf.
?Ich verstehe, dass ihn die Nachricht vom Tod eurer Mum aus der Bahn geworfen hat, aber …? Hilflos hebe ich die Schultern hoch. ?Es ?ndert nichts. Ich hasse ihn für das, was er getan hat.?
?Trotzdem warst du da, als er dich gebraucht hat. Das bedeutet doch etwas, oder nicht??
Ich rühre in der Schokolade herum und hole tief Luft. ?Mir liegt noch etwas an ihm, ja. Aber gleichzeitig war ich noch nie so wütend auf jemanden. Und ich glaube nicht, dass diese Wut einfach verfliegen wird.?
Wir schweigen. Das Piepen des Ofens kommt mir viel lauter vor als noch wenige Minuten zuvor, ebenso wie die kleine Glocke an der Tür, die das Kommen und Gehen von Kunden ankündigt.
?H?tte ich lieber allein zum Arzt fahren sollen??, fragt Lydia unvermittelt.
Ruckartig hebe ich den Kopf. ?Nein!?
Auf Lydias Wangen zeichnet sich eine R?te ab, und mit einem Mal wirkt sie beinahe schüchtern. Ich frage mich, was gerade in ihrem Kopf vor sich geht. ?H?tte ich gewusst, wie es dir dabei geht, w?re ich nicht auf dein Angebot zurückgekommen. Ich …?
?Lydia?, unterbreche ich sie mit weicher Stimme und greife über den Tisch nach ihrer Hand. Ihre Augen weiten sich, und sie starrt auf unsere verschlungenen Finger. ?Was ich zu dir gesagt habe, war mein Ernst. Ich m?chte für dich da sein. Unsere Freundschaft hat nichts mit James zu tun. Klar??
Sie sieht mich wieder an, und ich meine, einen verd?chtigen Glanz in ihren Augen zu erkennen. Sie erwidert nichts auf meine Worte, aber sie drückt meine Hand kurz. Und das ist mehr als genug.
8
James
Die rauen Gitarrenkl?nge von Rage Against The Machine dr?hnen seit über einer Stunde in meinen Ohren, und es fühlt sich an, als stünde mein ganzer K?rper in Flammen. Trotzdem ist es nicht genug.
Ich stehe vor der Kraftstation und umklammere die kurze Stange, die oben mit Karabinern befestigt ist. Ich halte die Ellenbogen eng am K?rper und führe meine Unterarme hoch, anschlie?end strecke ich sie nach unten, immer und immer wieder. Schwei? tropft von meiner Stirn auf mein T-Shirt, und meine Armmuskeln zittern, aber das ist mir egal. Ich mache einfach weiter. Irgendwann wird der Punkt kommen, an dem ich so fertig bin, dass in meinem Kopf nur noch ein lautes, bedeutungsloses Rauschen ist und die Gedanken an Beaufort, meine Mum oder Ruby verstummt sind. Nachdem ich die Einheit für Arme durchgezogen habe, setze ich mich auf das Polster der Kraftstation. Ich greife nach dem Gest?nge und drücke es langsam nach vorne. Als ich es in langsamer Geschwindigkeit zurücklasse, macht sich ein Ziehen in meinen Brustmuskeln bemerkbar.
Ich realisiere erst, dass die Tür zum Fitnessraum aufgegangen ist, als Lydia sich mit verschr?nkten Armen vor mir aufbaut. Meine Schwester starrt mich von oben herab an und sagt etwas, doch bei dem Krach in meinen Ohren kann ich sie nicht h?ren. Unbeirrt mache ich die übung weiter. Lydia beugt sich zu mir herunter, sodass ich keine andere Wahl habe, als sie anzusehen. Langsam formen ihre Lippen ein weiteres Wort – und das muss ich nicht h?ren, um es zu verstehen.
Idiot.
Ich frage mich, was ich jetzt schon wieder verbrochen habe. Seit der Beerdigung habe ich das Haus so gut wie nie verlassen und auch keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt. Vor allem in Momenten, in denen ich die dunklen Gedanken nicht aufhalten konnte, ist mir das schwergefallen. Doch ich habe durchgehalten, auch wegen Lydia, deren bebender K?rper bei Mums Beerdigung mich daran erinnert hat, dass es meine Aufgabe als Bruder ist, für sie da zu sein. Warum sie im Moment mit ger?teten Wangen vor mir steht und energisch auf mich einredet, kann ich mir also nicht erkl?ren. Wobei ich zugeben muss, dass ihr Mund-Auf-Mund-Zu zusammen mit der dr?hnenden Musik in meinen Ohren eigentlich ein recht amüsantes Bild abgibt. Es sieht beinahe aus, als würde sie lipsyncen.
Pl?tzlich macht Lydia einen Schritt nach vorn und zieht mir einen Ohrst?psel aus dem Ohr. ?James!?
?Was ist los??, frage ich sie und nehme auch den zweiten St?psel raus. Die pl?tzliche Ruhe kommt mir bedrohlich vor. In letzter Zeit brauche ich immer Ger?usche um mich herum, weil ich sonst nachzudenken beginne.