Ich vermisse James.
Es ist absurd.
Absurd und wahnsinnig.
Und ich k?nnte mich dafür ohrfeigen. Er hat mir das Herz gebrochen, verdammt. Jemanden, der so etwas tut, sollte ich definitiv nicht vermissen.
Weihnachten kommt und geht, und zum ersten Mal in meinem Leben kann ich die Feiertage überhaupt nicht genie?en. Die Filme, die wir schauen, erscheinen mir farblos, und die Lieder, die wir h?ren, klingen alle gleich. Obwohl ich wei?, dass Mum und Dad sich beim Kochen ins Zeug gelegt haben, schmeckt das Essen fad. Und zu allem überfluss fragen mich meine Verwandten ununterbrochen, warum ich so niedergeschlagen bin und ob es etwas mit dem Jungen zu tun hat, der mir an meinem Geburtstag diese hübsche Tasche geschenkt hat. Irgendwann halte ich es nicht mehr aus und verkrieche mich allein in meinem Zimmer.
Als Silvester vor der Tür steht, beschlie?e ich, dass ich keine Minute l?nger so weitermachen kann. Ich habe es satt, mich so zu fühlen. Ich war immer ein positiver Mensch, der sich auf Neuanf?nge gefreut hat. Ich weigere mich, mir diese Einstellung von James nehmen zu lassen.
Also springe ich kurzerhand unter die Dusche, ziehe mir eines meiner liebsten Outfits an – einen engen karierten Rock und eine locker sitzende, cremefarbene Bluse –, schnappe mir mein neues Bullet Journal und gehe nach unten, fest entschlossen, Ember und meinen Eltern meine Vors?tze fürs neue Jahr zu verkünden.
Doch als ich das Wohnzimmer betrete, erstarre ich.
?Was macht ihr denn hier??, frage ich überrascht.
Ember f?hrt erschrocken zu mir herum, ebenso wie Lin, die gerade dabei war, bunte Schirmchen in Gl?sern zu verteilen. Auch Lydia h?lt abrupt in ihrer Bewegung inne – die Luftschlange in ihrer Hand macht sich allerdings selbstst?ndig und rollt von allein ab. Schweigend beobachten wir, wie sie in einem traurigen kleinen Haufen auf dem Boden landet.
Dann baut Ember sich vor mir auf. ?Wieso kommst du ausgerechnet heute aus deinem Schneckenhaus??, fragt sie aufgebracht. ?Man kann die Uhr danach stellen, wann du dein Zimmer verl?sst – und genau jetzt, wo ich einen überraschungsm?delsabend für dich plane, kommst du früher runter. Das ist einfach … Mann, Ruby!?
Ich sehe zwischen den drei hin und her. Dann breitet sich ein langsames L?cheln auf meinen Lippen aus.
?Wir feiern Silvester zusammen??, frage ich vorsichtig.
Lin erwidert mein L?cheln. ?Das war der Plan.?
Als die Erkenntnis wirklich zu mir durchsickert, nehme ich Ember fest in den Arm. ?Danke?, murmle ich an ihrer Schulter. ?Ich glaube, das ist genau das, was ich jetzt brauche.? Und dass Ember das wusste, zeigt mir wieder einmal, dass sie mich besser kennt als jeder andere Mensch auf der Welt.
?Ich dachte, vielleicht kann ich dich hiermit ein bisschen glücklich machen?, flüstert meine Schwester und streicht über meinen Rücken.
Ich nicke. Zum ersten Mal, seit das mit James alles passiert ist, fühle ich aufrichtige Freude. ?Danke?, sage ich auch zu Lin und Lydia und drücke sie nacheinander fest an mich. ?Ich freue mich so.?
Danach helfe ich dabei, die restlichen Luftschlangen auszubreiten und roségoldenes Konfetti zu verstreuen. Ember schlie?t die beiden uralten Boxen, die wir mal auf einem Flohmarkt gekauft haben, an ihren Laptop an, und w?hrend sie nebenbei eine geeignete Playlist heraussucht, teilt sie mir mit, wie der Plan für den Abend aussieht. Sie hat sich offensichtlich viele Gedanken gemacht und alles bis ins kleinste Detail geplant, wofür ich ihr am liebsten ein zweites Mal um den Hals fallen würde. Doch ich halte mich zurück und h?re ihr stattdessen von der Couch aus zu.
?Ich habe mir gedacht, dass wir zuerst unsere sch?nsten Momente aus dem letzten Jahr aufschreiben und miteinander teilen. Danach schauen wir uns einen Film an – welchen entscheiden wir gleich – und verdrücken diesen Berg Popcorn.? Sie deutet auf eine riesige Schüssel, die auf dem Wohnzimmertisch steht. Dad benutzt sie normalerweise, um Schichtsalat zu machen, den er immer mit zu gro?en Familientreffen bringt. Jetzt ist sie bis oben hin mit Popcorn gefüllt, dessen buttrig sü?er Duft das gesamte Wohnzimmer erfüllt. Mir l?uft das Wasser im Mund zusammen.
?Anschlie?end essen wir den Hauptgang?, f?hrt Ember fort. ?Dad hat Quiche für uns alle gemacht. Danach gibt es noch Nachtisch, und schon sind wir bei – wie ich vermute – Rubys Lieblingsteil.?
Lin h?lt eine halb durchsichtige Tüte hoch, in der ich kleine Bücher und einige Stifte erkennen kann.
Ich tue nicht mal so, als müsste ich überlegen. ?Wir schreiben unsere Vors?tze für 2018 auf!?
Ember nickt lachend. ?Sobald es Mitternacht ist, werden wir vermutlich entweder im Essenskoma liegen oder eine Tanzparty veranstalten.?