Dann setze ich mich wieder neben Lydia. ?Es sind deine Vitamine, oder??, murmle ich.
Ihre Schultern beben so sehr, dass ich ihr gestammeltes ?Ja? kaum verstehen kann. Und dann mache ich das Einzige, was mir in dieser Situation sinnvoll erscheint: Ich nehme sie in den Arm und halte sie einfach nur fest.
11
James
Lydia sitzt auf ihrem Bett und fummelt an dem Kissen herum, das auf ihrem Scho? liegt. Zum wiederholten Mal versuche ich, m?glichst unauff?llig einen Blick auf ihren Bauch zu erhaschen. Nachdem ich eine halbe Stunde lang im Zimmer auf und ab gelaufen bin und versucht habe, meinen Puls zu beruhigen, habe ich mich irgendwann auf einen ihrer Sessel fallen lassen.
Jetzt suche ich nach den richtigen Worten, aber in meinem Kopf wirbeln die Gedanken durcheinander, und ich schaffe es nicht, auch nur einen Satz herauszubringen.
Wie?
Wie zum Teufel sollen wir uns um ein Baby kümmern?
Wie k?nnen wir es vor Dad verheimlichen?
Kann man in Oxford studieren, wenn man ein Baby hat?
?Ich wollte nicht, dass du es so erf?hrst.?
Ich blicke auf. Die Anspannung, unter der Lydia steht, ist unübersehbar. Ihre Wangen sind ger?tet, ihre Schultern stocksteif.
?Ich … ich wei? nicht, was ich sagen soll.?
Ich komme mir so unendlich dumm vor. Gleichzeitig wird mir klar, wie egoistisch ich in den vergangenen Wochen war. Ich habe nur mein eigenes Schicksal bejammert, meinen Verlust, mein schlechtes Gewissen, mein gebrochenes Herz. Die ganze Zeit wusste meine Schwester, dass sie schwanger ist, und dachte, dass sie es mir nicht erz?hlen kann. Natürlich gibt es Dinge, die wir einander vorenthalten, aber doch nicht so etwas. Nicht etwas, was so überm??ig gro? und lebensver?ndernd ist.
?Du brauchst nichts zu sagen?, flüstert Lydia.
Ich schüttle den Kopf. ?Es tut mir …?
?Nein?, unterbricht sie mich. ?Ich will kein Mitleid, James. Nicht von dir.?
Ich kralle meine Finger in die Lehnen des Sessels, um mich davon abzuhalten, wieder aufzuspringen und durch das Zimmer zu marschieren. Der Stoff knirscht unter meinem unnachgiebigen Griff.
Die Kluft, die zwischen Lydia und mir entstanden ist, als ich ihr diese unverzeihlichen Worte an den Kopf geworfen habe, erscheint mir unüberwindbar. Ich bin mir unsicher, was ich sie fragen kann und was nicht. Hinzu kommt, dass ich mich überhaupt nicht mit Schwangerschaften auskenne.
Ich schlie?e die Augen und reibe mir mit beiden H?nden übers Gesicht. Meine Gliedma?en fühlen sich müde an, als w?re ich in den letzten Stunden gealtert und nicht mehr achtzehn, sondern achtzig Jahre alt.
Schlie?lich r?uspere ich mich. ?Wie hast du es erfahren??
überrascht sieht Lydia auf. Sie z?gert einen Moment lang, dann beginnt sie zu erz?hlen. ?Ich habe … ?hm … ohnehin keinen regelm??igen Zyklus, deshalb habe ich mir am Anfang nichts dabei gedacht, als meine Tage ausgeblieben sind. Aber nach einiger Zeit wurde ich misstrauisch, weil es mir auch ganz merkwürdig ging. Insgesamt.? Sie zuckt mit den Schultern. ?Also habe ich mir einen Test gekauft. Da waren wir in London. Ich habe ihn auf der Toilette eines Restaurants gemacht und bin fast umgefallen, als er positiv war.?
Kopfschüttelnd sehe ich sie an. ?Wann war das??
?Im November.?
Ich schlucke schwer. Vor zwei Monaten. Zwei Monate lang schon hütet Lydia dieses Geheimnis, wahrscheinlich v?llig angsterfüllt und in dem Glauben, vollkommen allein zu sein. Wenn mich diese Offenbarung bereits so aus der Bahn wirft – wie war es ihr in den letzten Wochen ergangen? Zus?tzlich zu allem, was sonst noch geschehen ist?
Mit einem Mal wünsche ich mir nichts mehr, als die Distanz zwischen uns zu überwinden. ?Ich kann mir nicht vorstellen, wie das für dich gewesen sein muss.?
?Ich … habe mich noch nie so allein gefühlt. Noch nicht einmal nach der Sache mit Gregg. Ich h?tte niemals gedacht, dass es mit Graham einmal schlimmer sein k?nnte.?
?Wei? er davon??, hake ich vorsichtig nach.
?Nein.?
Lydia bemüht sich sichtlich, nicht zusammenzubrechen, dabei sehe ich ihr die Hoffnungslosigkeit an. Vermutlich hat sie in den letzten beiden Monaten nichts anderes getan, als sich zusammenzurei?en, st?ndig bemüht darum, ihr Geheimnis für sich zu behalten und niemandem ihre wahren Gefühle zu zeigen. Ich hasse mich selbst dafür, sie so im Stich gelassen zu haben. Stattdessen habe ich nur an mich selbst gedacht.
Damit ist jetzt Schluss. Ich habe keinen blassen Schimmer, was in den kommenden Monaten auf Lydia zukommen wird. Doch in dieser Sekunde ist mir zu hundert Prozent klar, dass sie das nicht allein durchmachen wird.
Ich hole tief Luft und stehe auf.
Als ich mich neben sie auf das Bett setze, schiebe ich alles beiseite – die Trauer, den Schmerz, die Wut, die ich empfunden habe. Vorsichtig greife ich nach ihrer Hand.