?Du bist nicht allein?, versichere ich ihr.
Lydia schluckt hart. ?Das sagst du nur so. Und das n?chste Mal, wenn du wütend bist, knallst du mir wieder nur gemeine Worte an den Kopf.? Tr?nen laufen ihr über die Wangen, und ihr K?rper bebt, als sie mit aller Macht ein Schluchzen unterdrückt. Es macht mich fertig, sie so zu sehen.
?Ich meine es ernst, Lydia. Ich werde für dich da sein.? Ich hole tief Luft. ?Die Person, die ich war, nachdem Dad uns erz?hlt hat, was passiert ist – die bin ich nicht. Die will ich nicht sein. Das war einfach … Es war zu viel für mich. Ich war nicht stark genug, und das tut mir leid.?
?Du zerquetschst meine Hand?, murmelt Lydia.
Einen Moment lang stehe ich auf dem Schlauch. Doch als ich Lydias Blick folge, schalte ich und lasse sie sofort los. ?Auch das tut mir leid.? Ich l?chle sie entschuldigend an.
?Ach, James.? Auf einmal lehnt Lydia sich zur Seite, mit dem Kopf auf meine Schulter. Ich atme auf. ?Du hast mir echt wehgetan mit dem, was du gesagt hast.?
Ich streiche sanft über ihren Hinterkopf.
Früher haben wir oft so dagesessen. Als Fünfj?hrige ist Lydia zu mir ins Bett gekommen, wenn es drau?en geblitzt und gedonnert hat, als Zehnj?hrige, wenn Dad uns angeschrien hat, weil ihm unsere Noten nicht gut genug waren, und auch als Fünfzehnj?hrige hat sie nach der Sache mit Gregg in manchen N?chten an meine Tür geklopft und sich anschlie?end wortlos neben mich ins Bett gelegt. Ich habe stets ihren Kopf gestreichelt und gesagt, dass alles gut werden wird, auch wenn ich selbst davon nie überzeugt war.
Ich frage mich, ob sie sich auch noch an diese Momente erinnert oder ob das ein Teil unserer Vergangenheit ist, den sie verdr?ngt hat. Im Verdr?ngen sind wir Beauforts n?mlich ziemlich gut.
?Das, was ich gesagt habe, war gelogen. Du bist die wichtigste Person in meinem Leben.?
Lydia erstarrt neben mir, und mit jeder Sekunde, in der sie nicht reagiert, fühle ich mich mehr entbl??t. Krampfhaft suche ich nach etwas, was ich hinzufügen k?nnte, um die Stimmung etwas aufzulockern, doch mir f?llt nichts ein. Also entscheide ich mich kurzerhand für eine der Fragen, die schon seit über einer Stunde in meinem Kopf herumschwirren.
?Warst du denn schon beim Arzt? Ich habe keine Ahnung, wie so was abl?uft. Ist alles in Ordnung? Und wofür sind diese Vitamine – hei?t das, du hast einen Mangel oder so??
Ich merke, wie nach und nach die Anspannung aus Lydias K?rper weicht. Sie nimmt einen tiefen Atemzug und dreht dann ihren Kopf, um mich von der Seite anzusehen. Ich erwidere ihren Blick. In dem Moment, in dem sich ein leichtes L?cheln auf ihrem Gesicht auszubreiten beginnt, wei? ich, dass wir es geschafft haben. Die Kluft zwischen uns ist überbrückt.
?Die Vitamine habe ich direkt bei der ersten Untersuchung bekommen, ich glaube, die bekommt fast jede Schwangere zu Beginn. Und bei der letzten Untersuchung war alles in bester Ordnung.? Sie z?gert. ?Es gab nur eine kleine überraschung.?
Ich hebe eine Augenbraue. ?Noch eine??
?Es werden Zwillinge.?
Ich starre Lydia ungl?ubig an. ?Du machst Witze.?
Sie schüttelt den Kopf und holt ihr Handy hervor. Sie ?ffnet die Galerie und zeigt mir ein Bild, auf dem auf dunklem Hintergrund der helle Umriss eines kleinen K?rpers zu sehen ist. Dann ruft sie das n?chste Bild auf. Eigentlich sieht es genau gleich aus – au?er dass ich direkt neben dem ersten Umriss ganz deutlich einen zweiten sehen kann.
In meinem Magen hüpft etwas, und mit einem Mal ist mir ganz komisch zumute. Gleichzeitig sto?e ich ein ungl?ubiges Lachen aus. ?Das ist zu irre, um wahr zu sein.?
Lydia grinst. ?Ich musste im ersten Moment auch lachen, weil ich es nicht fassen konnte. Na ja, wobei … eigentlich habe ich gelacht und gleichzeitig geweint. Ruby muss gedacht haben, dass ich einen Nervenzusammenbruch habe.?
Bei Rubys Namen richte ich mich automatisch ein Stückchen auf. ?Ruby war mit dir beim Arzt??
Lydia meidet meinen Blick und betrachtet stattdessen intensiv das Handy in ihrer Hand. ?Ja. Sie wei? es schon eine ganze Weile.?
Ich reibe mir mit der Hand übers Kinn. Meine Kehle fühlt sich mit einem Mal trocken an.
?Ich habe sie gebeten, es für sich zu behalten. Bitte sei nicht sauer auf sie.?
Ich kann nur den Kopf schütteln. Dann lasse ich mich nach hinten sinken und schlage die Arme vors Gesicht.
Ruby hat es gewusst.
Ruby ist für meine Schwester da gewesen. Nach allem, was ich getan habe, hat sie Lydia nicht alleingelassen. Im Gegensatz zu mir.
Ich kann nicht atmen.
?James??, flüstert Lydia.
Meine Arme zittern, aber ich kann sie nicht sinken lassen. Ich sch?me mich so. Für alles. All die Fehler, die ich als Freund und Bruder gemacht habe, fallen mit dem Gewicht eines Zehntonners auf mich, bis ich es kaum noch ertrage.