Meine Schwester zieht meine Arme weg und sieht mich besorgt an. Verst?ndnis breitet sich auf ihrem Gesicht aus. Anschlie?end l?sst sie sich neben mich fallen, und gemeinsam blicken wir hoch zu dem Kronleuchter, der in der Mitte ihres Zimmers h?ngt.
?Lydia?, raune ich in die Stille. ?Ich habe Mist gebaut.?
Lydia
So habe ich meinen Bruder noch nie gesehen.
Ich wusste zwar, dass ihm das mit Ruby nahegegangen ist, aber ich hatte keine Ahnung, wie sehr er wirklich leidet.
Jetzt, wo er seine Maske fallen lassen hat, erkenne ich die Scham in seinen Augen, aber auch die tiefe Traurigkeit und den Schmerz, den ihm die Trennung von Ruby bereitet. Es ist das erste Mal, dass er mir offen zeigt, wie es in ihm aussieht.
Ich verspüre den heftigen Wunsch, etwas für ihn und Ruby tun zu k?nnen. Denn es ist offensichtlich, dass sie beide noch Gefühle füreinander haben und unter der Situation leiden.
?Wieso hast du bisher nichts gemacht, um ihr zu zeigen, wie leid es dir tut??, frage ich nach einer Weile vorsichtig.
James dreht den Kopf zu mir. ?Ich habe versucht, mich bei ihr zu entschuldigen?, sagt er mit belegter Stimme. ?Sie kann nicht, hat sie gesagt.?
Einen Moment schweigen wir.
?Ich kann sie verstehen?, fange ich schlie?lich an, und James zuckt kaum merklich zusammen. ?Aber gleichzeitig … ich wei? auch nicht. Ich würde mir einfach so wünschen, dass ihr darüber hinwegkommt.?
?Ruby m?chte das nicht, und das muss ich respektieren.? Er klingt so resigniert, als er das sagt, dass in mir pl?tzlich der Wunsch aufkeimt, ihn zu schütteln.
?Seit wann bist du jemand, der einfach so aufgibt??
James schnaubt.
?Was??
?Ich habe nicht einfach so aufgegeben. Ich denke ununterbrochen an sie und bin mir sicher, dass ich nie wieder Gefühle für jemand anders haben werde, verdammt. Aber wenn sie mich nicht mehr will, dann …?
Ich schnappe mir einen der Skizzenbl?cke auf meinem Nachttisch und brate James eins damit über.
Er setzt sich ruckartig auf. ?Aua, was soll das??
Ich tue es ihm gleich und ignoriere die schwarzen Punkte, die dabei vor meinen Augen erscheinen. ?Du musst ihr das auch mal zeigen, James! Zeig ihr, wie wichtig sie dir ist und wie sehr du es bereust.?
?Du hast nicht mitbekommen, wie sie mich an Silvester angesehen hat. Und was sie gesagt hat …? Er schüttelt den Kopf. ?Sie ist fest entschlossen, dieses Jahr ohne mich zu beginnen – da kann ich sie nicht schon wieder mit dem belasten, was ich für sie fühle. Sie ist der Meinung, wir haben nichts gemeinsam und dass das mit uns niemals funktioniert h?tte.?
?Du sollst ja auch nicht zu ihr gehen und sie mit Liebesgest?ndnissen überfallen. Aber solange sie nicht wei?, wie leid dir tut, was du getan hast, kann sie dir nicht verzeihen.?
Ich sehe, wie es hinter seinen Augen zu arbeiten beginnt, und setze noch eins drauf. ?Du musst es ihr zeigen. Nicht mit blo?en Worten. Sondern mit deinem Verhalten. Wenn sie sagt, dass ihr nichts gemeinsam habt, überzeuge sie vom Gegenteil.?
Er schluckt hart und atmet schwer aus. Er führt gerade einen Kampf gegen sich selbst, das erkenne ich ganz deutlich.
Ich erinnere mich an unsere gemeinsame Rückfahrt von Oxford. Der Morgen, bevor sich alles ver?ndert hat. James sah so glücklich aus. Au?erdem hat er eine innere Ruhe ausgestrahlt, die ich so nicht von ihm kannte. Als w?re er zum ersten Mal mit sich im Reinen. Als w?re die unsichtbare Last, die er sonst immer mit sich herumtr?gt, verschwunden. Ich wünsche mir, dass er das zurückbekommt.
Nichtsdestotrotz gibt es eine Sache, die er wissen soll. ?James?, sage ich und warte geduldig, bis er mich ansieht. ?Wenn du noch mal jemanden küsst, der nicht Ruby ist, werde ich dir h?chstpers?nlich die Zunge rausschneiden.?
James blinzelt überrascht. Dann schüttelt er langsam den Kopf. ?Ich wei? nicht, wieso ich nicht vorher darauf gekommen bin, dass du viel Zeit mit Ruby verbringst.?
Kurz bin ich versucht zu l?cheln, halte es aber zurück. ?Ich meine das ernst. Ich m?chte wirklich, dass ihr das wieder hinbekommt.?
James atmet h?rbar aus. ?Ich m?chte das auch. Mehr als alles andere.?
?Dann k?mpfe um sie, verdammt.?
Eine ganze Zeit lang sagt er nichts, sondern starrt nur mit einem seltsam entrückten Blick an die Zimmerdecke. Ich wünschte, ich k?nnte seine Gedanken lesen und erfahren, was er in diesem Moment denkt.
?Das werde ich?, sagt er schlie?lich leise.
Ich lege ihm die Hand auf die Schulter und drücke kurz zu. ?Gut.?
Sein einer Mundwinkel verzieht sich leicht nach oben. Die Bewegung ist so minimal, dass sie jedem anderen wahrscheinlich gar nicht aufgefallen w?re.
?Aber erst brauche ich einen Plan.?