?Dein erster Kuss, hm?? Wrens Tonfall ist mit einem Mal ganz sanft.
Der Mann an der Seite der Frau legt seine Hand auf ihren unteren Rücken, und ich sehe ihnen nach, als sie gemeinsam den Saal betreten. ?Ja.?
Einen Moment lang sagt er nichts. Dann … ?Tut mir leid.?
Das P?rchen verschwindet zwischen den anderen Menschen, und ich sehe wieder zu Wren.
?Meine Woche war ziemlich beschissen. Ich dachte, wir k?nnten uns gegenseitig ein bisschen aufheitern.?
?Wenn du m?chtest, k?nnen wir gern darüber reden?, sage ich. ?Aber für mehr bin ich nicht offen. Erst recht nicht, wenn du betrunken bist.?
?Ich bin nicht betrunken. H?chstens ein bisschen angeheitert. Ich wei? also ganz genau, was ich gerade getan habe. Und ich würde das auch tun wollen, ohne einen einzigen Schluck Alkohol getrunken zu haben?, sagt er mit zusammengezogenen Brauen. ?Nur damit du Bescheid wei?t.?
?Okay.?
Wren nickt einmal und l?sst sich dann auf der Bank zurücksinken. Er verschr?nkt die Arme vor der Brust und blickt zu dem Kronleuchter, der die Eingangshalle erhellt.
?Wieso war deine Woche so bl?d??, frage ich ihn nach einer Weile.
Er h?lt den Atem an. An der Art, wie sein K?rper sich pl?tzlich anspannt, merke ich, dass er mit der Frage nicht gerechnet hat und er erst einmal mit sich selbst ausmachen muss, ob er sie mir beantworten m?chte oder nicht.
Der leise Gesang des Schulchors dringt zu uns, aber ich nehme die sanften Harmonien nur am Rande wahr.
Schlie?lich atmet Wren tief ein und schlie?t die Augen. ?Meine Eltern sind vor einer Weile bankrottgegangen.?
?Was ist passiert??
Wren zuckt kaum merklich mit den Schultern. ?Mein Dad hat sich mit Aktien verspekuliert. Er hat fast sein gesamtes Verm?gen verloren.?
Oh Mann. Ich kann mir vorstellen, wie es für jemanden an der Maxton Hall sein muss, von einem Tag auf den anderen nahezu alles zu verlieren.
?Das tut mir leid.?
Wren presst die Lippen fest zusammen und starrt auf das Gel?nder.
?Was bedeutet das für euch??, frage ich vorsichtig.
?Wir ziehen um. Was danach ist, wei? ich nicht. Ich habe eine Zusage von Oxford – keine Ahnung, wie ich die Studiengebühren bezahlen soll.?
?Es gibt Stipendien und solchen Kram. Meine Schwester bewirbt sich auch für einige. Vielleicht k?me das für dich infrage??, schlage ich vor.
Er nickt abwesend. ?Ja. Vielleicht.?
Ein paar Minuten lang lauschen wir dem Chor, der unten das Cover eines Popsongs singt. Der Moment zwischen uns kommt mir fast friedlich vor – als h?tte Wren mir nicht gerade etwas so Trauriges anvertraut.
Pl?tzlich dreht er seinen Oberk?rper zu mir und sieht mich wieder an. Ich wei? nicht, wie viel Kraft ihn das gekostet hat, aber von einer Sekunde auf die andere ist sein Blick nicht mehr verloren, sondern wieder so neugierig wie zu Beginn des Abends.
?Du bist dran?, sagt er. ?Erz?hl mir etwas über dich. Bisher wei? ich nur, dass Ruby deine Schwester ist und du dich für Mode interessierst.?
Ich l?chle ihn an, unsicher, was ich ihm anvertrauen m?chte. ?Ich habe seit eineinhalb Jahren einen Modeblog für Plus-Size-Fashion. Er hei?t Bellbird?, fange ich mit dem Wichtigsten und Unverf?nglichsten zugleich an. über meinen Blog kann meinetwegen die ganze Welt Bescheid wissen. Ich bin stolz auf das, was ich tue, insbesondere jetzt, nach dem Rebranding.
Das L?cheln kehrt zurück auf Wrens Gesicht. ?Das klingt cool. Wie kamst du dazu??
Seine Frage überrascht mich, aber auf eine angenehme Weise. Ich befeuchte mir die Lippen. ?Ich bin schon mein Leben lang dick.? Ich mache eine kurze Pause, gespannt, ob Wren auf diese Aussage irgendwie reagiert, doch er überrascht mich ein zweites Mal, indem er mich nur aufmerksam ansieht und darauf wartet, dass ich weiterspreche. ?Das liegt nicht daran, dass ich überm??ig viel esse, wie die Leute immer denken. Es ist einfach so. Und ich habe riesige Probleme damit, sch?ne Mode für meinen K?rperbau zu finden. Also habe ich irgendwann angefangen, eigene Kleidungsstücke zu n?hen. Die teile ich seitdem auf meinem Blog. Zus?tzlich dazu schreibe ich Artikel, in denen ich Leute dazu animieren m?chte, sich selbst so zu akzeptieren, wie sie sind.?
Wrens L?cheln verrutscht kein bisschen. Im Gegenteil, es wird sogar noch ein bisschen breiter. ?Du klingst wie eine Superheldin, Ember.?
Ich spüre, wie mir Hitze in die Wangen kriecht. Aber falsche Bescheidenheit ist eigentlich auch nicht so mein Ding, von daher sage ich: ?Ich bin eine Superheldin.?
Jetzt lacht er. Der Klang ist rau und wundersch?n, und ich glaube, ich werde mich die ganze Nacht lang daran erinnern. Einen Moment lang bereue ich, dass ich den Kuss abgebrochen habe. Doch tief im Inneren wei? ich, dass es die richtige Entscheidung gewesen ist. H?tte ich es nicht getan, h?tte ich es viel mehr bereut, da bin ich mir sicher.